7. Mai 2024 / Stadt Gütersloh

„Eine generelle Aktion gegen die historische Demenz“

Vorlesende beim „Lesen gegen das Vergessen“ mahnen, dass Kriege und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht wieder...

von Stadt Gütersloh

Vorlesende beim „Lesen gegen das Vergessen“ mahnen, dass Kriege und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht wieder passieren dürfen.

„Look at the World“, der populäre Song des britischen Komponisten John Milford Rutter (*1945), vorgetragen von 30 Stimmen des gemischten „After8Chors“, hat in der Martin-Luther-Kirche die sechste Ausgabe der Veranstaltungsreihe „Lesen gegen das Vergessen“ eröffnet. Im Fokus des Gedenkens steht die öffentliche „Bücherverbrennung“, eine von der NSDAP am 10. Mai 1933 inszenierte Aktion.

Eröffnungsansprache und Historischer Hintergrund

Lilian Wohnhas, Koordinatorin im Fachbereich Kultur der Stadt Gütersloh, begrüßte das Auditorium im Kirchenschiff und erinnerte an die einstige Geißelung politisch unliebsamer Schriftsteller. „Erstmals 2019, nach den rassistischen Ereignissen in Chemnitz, durchgeführt, hat sich diese Leseaktion inzwischen fest im Kulturkalender der Stadt Gütersloh etabliert“, skizzierte Wohnhas den historischen Hintergrund und bedankte sich bei Mitinitiatorin Almuth Wessel und allen Aktiven, „dass sie sich die Zeit nehmen, heute hier mitzuwirken!“.

Der erste Teil widmete sich den Arbeiten von Kurt Tucholsky, Alfred Polgar, Erich Kästner und Käthe Kollwitz, die in scharfzüngigen Worten die schrecklichen Ereignisse des Ersten Weltkriegs aufarbeiten und kritisieren. Henning Matthes, Erster Beigeordneter der Stadt Gütersloh, trug die Geschichte „Vor Verdun“ von Tucholsky vor, der sie unter dem Pseudonym Ignaz Wrobel in der Wochenzeitschrift „Die Weltbühne“ am 7. August 1924 publiziert hatte. „Am 8. Juni 1916 fiel das Fort Vaux. Fiel? Die Leute mussten truppweise herausgehackt werden, mit den Bajonetten, mit Flammenwerfern, mit Handgranaten und mit Gas. Sie waren die letzten zwei Tage ohne Wasser. – Auf französischer Seite sind an dieser Stelle vierhunderttausend Menschen gefallen; davon sind annähernd dreihunderttausend nicht mehr auffindbar, vermisst, verschüttet, verschwunden…“

Kritik am Ersten Weltkrieg

Etwa 17 Millionen Tote waren im Ersten Weltkrieg zu beklagen. Diese unvorstellbare Zahl wurde illustriert, als Volker Schiewer von der Bürgerbühne Gütersloh aus Alfred Polgars Essay „Der unbekannte Soldat“ vorlas. „Die Französische Republik legte ihren soldat inconnu unter den Triumphbogen auf den Platz des Sterns. ,Mort pour la patrie‘ steht eingemeißelt auf der steinernen Platte. Wer weiß, ob das stimmt. Vielleicht sollte es richtiger heißen: Mort par la patrie.“ – Klar beziffert werden in diesem Text auch die Kosten des „Arc de Triomphe“ auf dem Place de l’Etoille, und der Autor rechnet vor: „Triumphe, die einen Bogen bekommen, kosten nicht nur viel Geld, sondern auch viel Leben.“ Thematisch dazu besticht auch Erich Kästners „Gedicht Verdun, viele Jahre später“.

Christiane von Minckwitz, ebenfalls von der Bürgerbühne Gütersloh, richtete den Blick auf das erste Nachkriegsjahr 1919, als die Künstlerin Käthe Kollwitz ein Gedicht verfasst hat. „Es ist ein Klagegesang, in dem sie ihre Trauer, ihren Schmerz ausdrückt“, leitete von Minckwitz über. Es folgte ihre dramatisch gelungene Deklamation: „Das Lied vom Kummer sing ich euch, das mir das Herz zerfrisst.“

Vor 80 Jahren, am 27. Januar 1944, endete die Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht, die am 8. September 1941 ihren Blockadering um die Stadt geschlossen hatte. Die Co-Autoren Ales Adamowitsch und Daniil Granin begannen in den 1970er-Jahren, Überlebende der Blockade zu interviewen und deren Erinnerungen im „Blockadebuch“ zu veröffentlichen. Ludger Funke vom Forum Russische Kultur las aus dieser bewegenden Dokumentation vom Leiden der Bewohner Leningrads, denen auf Befehl Adolf Hitlers ein grauenvolles Schicksal zugedacht war. Hitler wollte die Stadt nicht erobern, sondern vernichten. Den Generälen befahl er, sie von der Außenwelt zu isolieren – kein Strom, kein Wasser, keine Nahrung. An einem Überleben der Menschen in der Stadt bestünde „kein Interesse“, so seine zynischen Worte. Funke deklamierte zwei eindrucksvolle Episoden, in denen es um Opfer ging, die in der Not in der Küche aufgebahrt werden. Von Olga Bergholz sprach er ein Gedicht, in dem lyrisch die argumentative Auseinandersetzung zwischen einem Mädchen und einer Nachbarin über ein Stück Brot behandelt wird.

Die Bedeutung der Pressefreiheit

„Ich koste viel Mühe und Anstrengung, mich gibt’s zwar kostenlos, aber ich bin nicht umsonst! Ich verlange viel Mut, weil man sich immer für mich stark machen muss“, zitierte Pfarrerin Erika Engelbrecht aus der WDR-Morgenandacht, die anlässlich des Tages der Pressefreiheit ausgestrahlt worden ist und die unterschiedlichen Aspekte dieser zentralen Freiheit beleuchtet. Engelbrecht nutzte das Zwölfuhrläuten, sprach ein Friedensgebet und stimmte anschließend das Lied Nr. 430 „Die Welt nimmt einen schlimmen Lauf“ an. Nach dem Erteilen des Segens „Nehmt einander an“ sang der After8Chor unter dem Dirigat von Petra Heßler „Ubi caritas“, eine Antiphon aus der Liturgie des Gründonnerstags. Heiner Breitenströter spendete die Pianoklänge.

„Ich lese aus dem Roman ‚Kind aller Länder‘, der vorliegende Text stammt aus dem Jahr 1938“, hob Lilian Wohnhas ihren Beitrag an. In diesem Exilroman erzählt das Emigrantenkind Kully, das vor den Nazi-Repressionen aus dem Rheinland nach Belgien und in die Niederlande geflohen ist, im naiven Sprachduktus von einem Leben in Hotelzimmern, geprägt von ständigen Geldsorgen und spontanen Begegnungen mit Tiefe. „Mein Vater sagt, die deutsche Regierung sperrt Menschen ein, ohne dass sie gestohlen haben“, zitiert Wohnhas Kully.

Christiane von Minckwitz übernahm erneut das Wort und proklamierte Kurzprosa von Jenny Aloni, die 1917 in Paderborn als Jenny Rosenbaum geboren wurde. „Dem Holocaust entkam sie durch ihre Auswanderung nach Palästina 1939. 1942 wurden ihre Eltern nach Theresienstadt deportiert, zwei Jahre später ermordet. Für die Aufarbeitung jüdischer Schicksale fand Jenny eine eigene ausdrucksstarke Sprache“, leitete von Minckwitz ein und stellte vier prägnante Texte vor: „Beethoven“, „Das fremde Zimmer“, „Das Haus“ und „Ohne Überschrift“. 

Literarische Einblicke in das Schicksal von Menschen

Der historisch interessierte Lasse Stoevesandt, der im Stadtarchiv aktuell ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) absolviert, las aus dem 1975 erschienenen „Roman eines Schicksallosen“ des ungarischen Schriftstellers und Literaturnobelpreisträgers Imre Kertész vor. Das Buch beschreibt aus der Perspektive eines jüdischen Budapester Jungen, des 15-jährigen György, das Leben in Ungarn im Zweiten Weltkrieg, die Deportation in die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald und den dort herrschenden Lageralltag. Kertész ist selbst dort Häftling gewesen und verarbeitet in dem Werk persönliche Erfahrungen.

Almuth Wessel, Mitinitiatorin der Gütersloher Veranstaltungsreihe, charakterisierte das Format in prägnanten Worten: „Das Lesen gegen das Vergessen ist eine generelle Aktion gegen die historische Demenz.“ In ihrem Beitrag trug sie das Gedicht „In meinen Träumen läutet es Sturm“ von der in Galizien (Österreich-Ungarn) geborenen Dichterin Mascha Kaléko vor.

„Jung und Alt haben eine ansprechende Auswahl getroffen und aus unterschiedlichen Texten gelesen, auch der ausdrucksstark artikulierende After8Chor war thematisch voll integriert“, resümierte Lilian Wohnhas das „Triple“ aus Lesung, Musik und Friedensgebet. Ein Videomitschnitt der Veranstaltung, die von der Brockhagener Firma Bauherr-Medientechnik aufgezeichnet worden ist, wird unter
www.kulturportal-guetersloh.de veröffentlicht.

Quelle: Stadt Gütersloh - hier Original öffnen (www.guetersloh.de)

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